Emotionen beginnen nicht nur im Kopf: Was die Herz–Gehirn-Forschung wirklich zeigt

Seit über 100 Jahren wird darüber gestritten, ob Emotionen im Gehirn entstehen und dann körperliche Reaktionen auslösen (top-down) oder ob körperliche Veränderungen zuerst auftreten und die Emotion erst im Gehirn entsteht (bottom-up). Die Arbeit von Candia-Rivera und Kollegen von der Universität Pisa adressiert diese Frage empirisch, indem die zeitliche Dynamik zwischen Herzaktivität und Gehirnaktivität unter emotionaler Stimulation analysiert wurde.

Studiendesign

  • 62 gesunde Probanden
  • Simultane EEG- und EKG-Messungen während emotionaler Videos (DEAP- und MAHNOB-Datensätze)
  • Selbstberichte zu Arousal (Erregung) und Valenz (angenehm/unangenehm)
  • Richtungsanalyse der Interaktionen über ein Synthetic-Data-Generation-Modell:
    • Herz → Gehirn (aufsteigend)
    • Gehirn → Herz (absteigend)
  • Auswertung der hochfrequenten HRV-Komponente (HF-Band) sowie der niederfrequenten (LF-Band)

Zentrale Ergebnisse

1. Das Herz startet den emotionalen Prozess

Bereits innerhalb der ersten Sekunden nach dem emotionalen Stimulus zeigten sich klare Veränderungen im Herzrhythmusmuster, insbesondere im Hochfrequenzbereich (HF-HRV). Diese Veränderungen traten vor den typischen Aktivitätsmustern im EEG auf, die mit emotionaler Verarbeitung verbunden sind. In den Daten zeigte sich eine starke Kopplung zwischen dem Herzrhythmusmuster und EEG-Aktivität in Theta-, Delta- und Gamma-Bändern, besonders in frontalen und parietalen Regionen. Die HF-bezogene Herzrhythmusdynamik korrelierte mit dem berichteten Arousal, nicht mit der Valenz.

2. Aufsteigende Herzsignale initiieren, absteigende Gehirnsignale stabilisieren

Die Richtungsanalyse der Informationsflüsse ergab: Zunächst steigt die aufsteigende Kopplung von Herz zu Gehirn an; erst danach folgt eine absteigende Modulation vom Gehirn zum Herzen, die die körperliche Antwort reguliert und stabilisiert. Der zeitliche Ablauf ist damit klar: Das Herz sendet den ersten Impuls, das Gehirn integriert diesen und reguliert anschließend den Körperzustand.

3. Bedeutung für die Emotionstheorie

Die Ergebnisse widersprechen der Annahme, Emotionen begännen ausschließlich im Kopf. Sie stützen die Sichtweise, dass Emotionen als dynamischer Kreislauf zwischen Körper und Gehirn entstehen. Emotionale Prozesse sind demnach nicht bloß Interpretationen von Körpersignalen, sondern Resultate der fortlaufenden Integration dieser Signale im Gehirn, wobei das Herz den Anstoß geben kann.

Neurobiologische Einordnung

Die aufsteigenden Signale aus dem Herzen werden maßgeblich über afferente Bahnen des Vagusnervs und barorezeptive Mechanismen an das Gehirn weitergeleitet. Beteiligt sind Netzwerke wie die Insula, der anteriore cinguläre Kortex, die Amygdala sowie das Default Mode Network (DMN). Zusammen bilden sie das Central Autonomic Network (CAN), die funktionelle Schnittstelle zwischen Körperzustand und emotionaler Verarbeitung. Die Befunde fügen sich in Modelle wie die Polyvagal-Theorie (Porges) und die Neuroviszerale Integration (Thayer) ein, ohne dass aus der HF-HRV allein eine kausale vagale Aktivierung abgeleitet wird: Das HF-Band ist ein valider, aber nicht exklusiver Marker für vagal vermittelte Dynamik. Entscheidend ist die funktionale Sequenz Herz → Gehirn → Herz.

Fazit: Die Herz–Gehirn-Kommunikation als bidirektionaler Emotionsmotor

  1. Emotionale Reize beeinflussen früh und messbar den Herzrhythmus. Diese Veränderungen werden über afferente Bahnen an das Gehirn gemeldet.
  2. Das Gehirn reagiert mit arousal-spezifischen Aktivierungen, insbesondere im Theta- und Gamma-Bereich.
  3. Anschließend folgen top-down-Regulationen, die Herz und Körperzustand anpassen.
  4. Emotion entsteht aus einem fortlaufenden Kreislauf zwischen Herz und Gehirn, nicht aus einem eindimensionalen Top-down- oder Bottom-up-Prozess.

Warum das wichtig ist

Die Ergebnisse bestätigen, was Herzkohärenz-Training seit Jahren erfahrbar macht: Wer lernt, den Herzrhythmus zu harmonisieren, beeinflusst direkt die neuronale Dynamik im Gehirn und damit sein emotionales Erleben. Der Zustand der Herzkohärenz, also ein gleichmäßiges, geordnetes Herzrhythmusmuster, sendet stabile Signale an das Gehirn. Das fördert emotionale Ausgeglichenheit, klares Denken und die Fähigkeit, in herausfordernden Situationen präsent zu bleiben.

Wenn Denken allein nicht reicht

Viele Menschen versuchen, durch verändertes Denken ihr Befinden zu verbessern. Das funktioniert jedoch nur begrenzt. Mentale Strategien greifen zu kurz, wenn der Herzrhythmus nicht mitreguliert wird. Solange das Herzrhythmusmuster unruhig oder chaotisch bleibt, übermittelt es instabile Signale an das Gehirn, auf die das Gehirn reagiert. Erst wenn Herz und Gehirn in einen gemeinsamen Rhythmus finden, entfalten Gedanken ihre Wirkung, werden emotional getragen und im Nervensystem verankert. Selbstregulation entsteht im Zusammenspiel von Herz und Gehirn. Genau hier setzen Herzkohärenz-Training und HRV-Biofeedback an.

Praxisrelevanz

  • Psychophysiologie und Regulation: Trainings, die Herzrhythmusmuster harmonisieren, beeinflussen die zentrale Verarbeitung emotionaler Reize.
  • HRV-Biofeedback: Sichtbares, unmittelbares Feedback erleichtert das Erlernen kohärenter Muster und unterstützt nachhaltige Selbstregulation.
  • Atem- und Kohärenzpraxis: Langsame, rhythmische Atmung und positive, herzbezogene Aufmerksamkeitslenkung verbessern die afferente Signalqualität Richtung Gehirn.

Kurz gesagt

Emotionen beginnen nicht nur im Kopf. Das Herz setzt früh einen physiologischen Impuls, den das Gehirn integriert und in einen bewussten emotionalen Zustand überführt. Wer an Herzrhythmus und Kohärenz arbeitet, schafft die körperliche Grundlage dafür, dass mentale Strategien greifen.

Weiterlesen

Die vollständige Originalstudie ist frei zugänglich unter:
Candia-Rivera, D., Catrambone, V., Thayer, J. F., Gentili, C., & Valenza, G. (2022). Cardiac sympathetic–vagal activity initiates a functional brain–body response to emotional arousal. Proceedings of the National Academy of Sciences, 119(21), e2119599119.

vorheriger Beitrag: «

nächster Beitrag: