Psychotherapie jenseits aller Worte

Dyadische Ko-Regulation, vagale Regulation und Biofeedback in der Psychotherapie

Dieser Beitrag wurde inspiriert von dem Artikel „Psychotherapy beyond all the words“ von Charlotte Fiskum, erschienen im Journal of Psychotherapy Integration, das von der American Psychological Association publiziert wird. Auch wenn sich die Inhalte spezifischer an Psychotherapeuten richten, so ist doch das Thema „Selbstregulation“ wesentlich für die meisten Therapieformen, insofern sie auf die Selbstheilung von Patienten abzielen.

 

Die menschliche Physiologie wird in vielen Formen der Psychotherapie kaum berücksichtigt. Da einige Patienten allerdings von kognitiv-verbalen Methoden kaum oder gar nicht profitieren, kann es klug sein, den Werkzeugkasten von Therapeuten, die mit dysregulierten Patienten arbeiten, um physiologisch orientierte Ansätze zu bereichern.

Physiologische Störungen gehen oftmals Hand in Hand mit Psychopathologien und können bspw. durch die Herzratenvariabilität (HRV) gemessen werden. Denn viele Studien zeigen, dass eine Psychopathologie meist mit einer reduzierten oder atypischen HRV einhergeht, was auf eine reduzierte Fähigkeit zur komplexen Selbstregulation hindeutet.

 

Physiologische Prozesse in das psychotherapeutische Setting integrieren

Ein probates Mittel, um die Selbstregulationsprozesse auf physiologischer Ebene zu stärken, ist das Training der HRV mittels Biofeedbacks. HRV-Biofeedback ist eine vielversprechende therapeutische Intervention, die direkt auf diejenigen neuronalen Netzwerke Einfluss nimmt, die für die Selbstregulation und die psychische Gesundheit wichtig sind. Dies gelingt durch eine Stimulation der Leitungsbahnen des Nervus Vagus, die mit den Hirnarealen in enger Verbindung stehen, die für die Selbstregulation wichtig sind, wie z.B. dem Orbitofrontalen Kortex, der Insula und der Amygdala. So haben Studien eindeutig gezeigt, dass sich HRV-Biofeedback positiv auf alle Arten von Angst auswirkt und z.B. auch bei posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen hilfreich ist.

 

HRV-Biofeedback führt zu Herzkohärenz

Es geht also darum, aktiv und willentlich einen Zustand zu erzeugen, den die Forscher des HeartMath Institute als erstes mit Herzkohärenz bezeichnet haben. (Ausführliche Informationen zu Herzkohärenz finden Sie hier.) Für Patienten/Klienten ist die HeartMath-Methode ebenso einfachen wie effektiv. Und das spürbar und direkt! Denn die große Stärke von HeartMath ist es: 1. Erfolge sichtbar und nachweislich messbar zu machen und 2. Übungen und Anwendungen einfach in den Tagesablauf zu integrieren.

Doch auch für Therapeuten selbst bietet die regelmäßige Anwendung dieser Übungen viele Vorteile. Zunächst profitieren wir alle von der Fähigkeit, uns selbst besser regulieren und dadurch besser mit Stress und schwierigen Situationen umgehen zu können. Denn das Training der HRV stärkt nachweislich unsere Resilienz. Doch gerade im therapeutischen Setting kann die Selbstregulationsfähigkeit der/des Therapeutin/Therapeuten einen wesentlichen Unterschied machen. In einigen Fällen kann die therapeutische Arbeit fast vollständig außerhalb des kognitiv-verbalen Bereichs stattfinden und sich stattdessen auf grundlegende dyadische Regulationsprozesse und die Synchronisation von Rhythmen und Verhalten konzentrieren.

 

Kohärenz und das Phänomen der dyadischen Ko-Regulation

Jahrzehnte der Forschung über die frühkindliche Entwicklung haben gezeigt, dass die Entwicklung der adaptiven Selbstregulierung stark von der Anwesenheit eines emotional kompetenten Gegenübers abhängt. Das unreife, unerfahrene Nervensystem des Säuglings oder des Kindes und das reifere Nervensystem einer erwachsenen Bezugsperson sind voneinander unabhängige selbstorganisierende Systeme, die getrennte psychologische und physiologische Zustände erzeugen und aufrechterhalten. Diese getrennten Systeme können sich jedoch auch zu einem komplexeren, dyadischen System ausdehnen. — Unter dyadischer Beziehung wird in der Sozialwissenschaft eine intensive soziale Beziehung zweier Personen bezeichnet. — Dieser Zustand des dyadisch erweiterten Bewusstseins ermöglicht es dem unreifen Nervensystem des Kindes, sich durch die Organisation und Selbstregulation, die der kompetentere Partner vermittelt, in einen komplexeren und kohärenteren Zustand zu organisieren, als es allein in der Lage wäre.

 

Die Prinzipien der dyadisch erweiterten Ko-Regulation können auch auf das therapeutische Umfeld angewendet werden

Auch in der (Psycho)Therapie stellen die Nervensysteme des Patienten und des Therapeuten zwei getrennte, sich selbst organisierende Systeme dar, die wechselseitig interagieren können. Durch diese Interaktion kann ein größeres dyadisches System entstehen. Wie bei einem Säugling, kann ein dysreguliertes System eines Patienten durch die Gegenwart eines gut balancierten und regulierenden Therapeuten höhere Organisations- und Komplexitätszustände erreichen, als dies für den Patienten alleine möglich ist. Mit der Zeit werden die Muster der Erfahrung höherer Komplexität innerhalb der Dyade verinnerlicht und auch dann erreichbar, wenn sie allein oder mit anderen dyadischen Partnern erlebt werden, wodurch die Fähigkeit des Patienten zur Selbstregulation auch außerhalb der Therapie gestärkt wird.

Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass die autonome/vagale Regulation eng mit der dyadischen Regulation verbunden ist. Denn die vagale Selbstregulation ist die Grundlage für die Beziehung und Heilung durch autonom vermittelte Ko-Regulation und Synchronisation. Um es mit unseren Worten zu beschreiben: In einem (herz)kohärenten Zustand sind Therapeut*innen wesentlich besser in der Lage, mit ihren Klienten eine Verbindung einzugehen, die es diesen möglich macht, selbst kohärenter zu werden und dadurch ihre Fähigkeit zur Selbstregulation zu stärken.

Zum Artikel:

Photo by Chaozzy Lin on Unsplash

 

 

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